Mittwoch, 5. Dezember 2012

Bibliotheksschätze: Auto-mobil durchs Kinderbuch

Gastautorin Sigrun Putjenter ist wissenschaftliche Bibliothekarin an der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und war 2010/2011 Mitglied des Leserbeirats von Auto Bild. In ihrer Freizeit schreibt sie für Roundel, das Magazin des BMW Car Club of America. In dem folgenden Beitrag hat sie nicht nur ihre beiden Leidenschaften verpackt (nämlich Kinderbücher und Automobile), sondern auch noch eine umfassende Bibliographie beigefügt. Herzlichen Dank!
Die Entwicklung der ersten motorbetriebenen Fahrzeuge bedeutete im 19. Jahrhundert eine Sensation. Dementsprechend erschienen die ersten Berichte über derartige Innovationen in Presseerzeugnissen wie der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ (z.B. Jg. 1880, S. 642). Jungenzeitschriften, darunter „Das neue Universum“ (ab 1880) und „Der gute Kamerad“ (ab 1887), können als die ersten Anbieter kurzer Sachtexte angesehen werden.
Mit der Produktion kleiner Serien etabliert sich das Auto zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst als Spielzeug einiger weniger, die über die notwendigen finanziellen Mittel, Experimentierfreude und Sportsgeist verfügten. Exemplarisch für diese frühe Klientel steht Kenneth Grahames Kröterich in “The Wind in the Willows“ (1908, dt. 1929). Im Unterschied zu seinen viktorianisch beschaulichen Freunden, dem Maulwurf und der Wasserratte, die eines der seltenen Automobile auf der Straße als bedrohliche Belästigung empfinden, wird Kröterich als leidenschaftlicher Autoliebhaber, der geradezu besessen ist von der Kraft des Motors, seinen Geräuschen und sogar dem Abgasgeruch, dargestellt.i Auch in den Bilderbüchern des frühen 20. Jahrhunderts wird der Widerstreit zwischen Technikbegeisterung und Innovationsfreude einerseits sowie Angst und Ablehnung des Unbekannten andererseits deutlich.
Dem Auto gelingt in dieser Zeit der Sprung aus den Kolumnen technischer Sensationsmeldungen in die erzählende Literatur. Als moderne Attraktion findet es seinen Weg in die Abenteuerliteratur. In den USA entstehen gar vollständige, genderspezifische Serien: „The Motor Boys“ii und „The Automobile Girls“iii. Doch auch bei den “Motor Boys“ zeigt sich, dass die Faszination, die vom Auto ausgeht, im Laufe der Zeit noch von anderen motorisierten Fortbewegungsmitteln übertroffen wird. Motorboote, U-Boote und vor allem Flugzeuge machen dem Auto noch vor dem 1. Weltkrieg den Rang als prominentes Mittel jugendlicher Traumwandelei streitig.
In der Zwischenkriegszeit entwickelt sich das technische Wunder von einst zu einem Massenprodukt, das vor allem das Straßenbild der westlichen Metropolen prägt. Das wird in Klassikern wie Wolf Durians „Kai aus der Kiste“ (1927) oder Erich Kästners „Emil und die Detektive“ (1929) deutlich.iv Auch die den Texten zugrunde liegende Überzeugung der Autoren wandelt sich. Die Distanz zum Auto als einer brillianten, schier unerreichbaren Ingenieursleistung schmilzt dahin. Es erscheint nunmehr als ein überaus begehrenswertes Produkt, dessen tatsächlicher Besitz für das jugendliche Publikum in durchaus greifbare Nähe rückt. Das Auto als Vehikel für abenteuerliche Reisen, wie erstmals bereits 1907 bei der legendären Rallye Peking-Paris, behält seinen Wert.v Auch in der Mädchenliteratur findet dieses Konzept seine Anwendung.vi Darüber hinaus entspannt sich die zuvor zuweilen drastische Haltung zur technischen Innovation im Bilderbuch.vii
Nach dem 2. Weltkrieg wird das Auto zum festen Bestandteil des Alltags der westlichen Industrienationen. Entsprechend selbstverständlich ist es in die Literatur integriert. Eine prominente Rolle nimmt es fortan lediglich im Bereich der Bilderbücher als wichtiges Bezugsobjekt für das Alltagserleben kleiner Kinder ein. In der erzählenden Literatur für die Größeren und für Teenager erfährt es ab den 70er Jahren einen Bedeutungsgewinn als Auslöser für tragische Geschicke. Das Sujet der Bewältigung von Unfallfolgen, wie Behinderung oder Tod eines nahe stehenden Menschen, wird immer häufiger aufgegriffen. Übrigens nimmt im gleichen Zeitraum auch die Anzahl an Werken zum Thema Verkehrserziehung merklich zu.
Für die Entwicklung der automobilbezogenen Sachliteratur bedeuten eher die 60er Jahre eine Zäsur. Waren die Sachbücher zuvor vornehmlich erzählender Natur, so setzt sich nun ein wohl differenzierter und ansprechend illustrierter, informativer Sachbuchstil durch, den Ragnar Tessloff durch Lizenzeinkäufe in den USA („How and Why Wonder Books“) nach Deutschland (West) importiert. Seine „Was ist was“-Serie setzt neue Standards. Der erste Band zum Thema „Das Auto“ erscheint 1974.
Der Nervenkitzel, der Reiz des Exotischen ist jedoch dahin. Nachdem selbst die lange Zeit so attraktive wie exklusive Fliegerei zum Massenphänomen verkam, beflügeln an der Schwelle zum 21. Jahrhundert nur noch die Raumfahrt bzw. Autorennen die Phantasie der jungen Leserschaft, da man hier in aller Regel auch in Zukunft auf eine Beobachterrolle reduziert sein wird.


Anmerkungen

i “[…]that beautiful, that heavenly vision […]. […] that swan, that sunbeam, that thunderbolt! I might never have heard that entrancing sound, or smelt that bewitching smell!” – In: The Wind in the Willows, Chapter 2, p. 68.
Die erste deutschsprachige Ausgabe, übersetzt von Else Steup, erschien 1929 unter dem Titel „Christoph, Großmaul und Cornelius. Die Abenteuer einer fidelen Gesellschaft am Fluß, im Wald und anderswo“ (Gundert : Stuttgart, 1929).
Eine der bekanntesten Übertragungen, die auch erstmals den Titel „Der Wind in den Weiden“ trug, stammt von Harry Rowohlt: „Der Wind in den Weiden oder der Dachs lässt schön grüßen, möchte aber auf keinen Fall gestört werden“ (Köln : Middelhauve, 1973).
ii Die Serie „The Motor Boys“ des Stratemeyer Syndicates, veröffentlicht unter dem Pseudonym Clarence Young, erschien zwischen 1906 und 1924 und umfasste 22 Bände.
iii Die Serie “The Automobile Girls” von Laura Dent Crane (sowie vermutlich Frank G. Patchin als Ghostwriter von drei Bänden) erschien zwischen 1910 und 1913 und umfasste sechs Bände.
iv Während der moderne Straßenverkehr sowohl in „Kai aus der Kiste“ als auch in „Emil und die Detektive“ den aktuellen Hintergrund darstellen, unterstreicht das eigene Automobil in Kästners „Pünktchen und Anton“ (1931) die gesellschaftliche Positionierung der Familie Pogge: „Freitags kam Pünktchen eine Stunde früher als sonst aus der Schule. Direktor Pogge wusste das und schickte den Schofför mit dem Auto hin, dass er das Mädchen mit dem Wagen heimführe. Um diese Zeit brauchte er das Auto noch nicht, und Pünktchen fuhr so gern im Auto. […] Die andern kleinen Mädchen freuten sich schon. Denn wenn Pünktchen Pogge mit dem Wagen abgeholt wurde, durften stets so viele mitfahren, wie hineingingen.“ (123. Aufl. – Hamburg : Dressler, 2004. - S. 81)
v Barzini, Luigi: Peking-Paris im Automobil / hrsg. vom Berliner Ausschuß für Volksliteratur. – Berlin : Mehler, [um 1910]. – 31 S. - (Exotische Abenteuer ; 7)
vi Bereits 1912 hatte I. Utecht (i.e. Josephine Schade) die „Wette um eine Million : im Auto quer durch Amerika“ vorgelegt, 1925 erscheint Estrid Otts „3 Mädel in einem Auto“ (Dt. 1929).
viiFür kleine übermütige Mädchen (und Jungen!) findet sich ein warnendes Bilderbuch, „Heides erste Autofahrt“ von Karl Kühnle (1938). Ein frühes Spielbilderbuch zum Thema erscheint 1939, „Hallo – mein Auto“ von Walter Andreas (i.e. Walter Andreas Sixtus).


Auswahlbibliographie


Bilderbücher

Andreas, Walter: Hallo - mein Auto! 1939.
Cuénoud, Edmond: Das Automobil 217=UU, 1905.
Janosch: Das Auto hier heißt Ferdinand, 1964.
Kranz, Herbert: Mit Vollgas! Ein Bilderbuch vom Auto, 1930.
Kühnle, Karl: Heides erste Autofahrt, 1938.
Mitgutsch, Ali: Wir bauen ein Auto, 1973.
Probst, Pierre: L' automobile de Caroline, 1957.
Thiel, Johannes: Der kleine Autoheld, 1928.
Töff-Töff! Hurra! Eine lustige Automobilfahrt, ca. 1897.
Upton, Bertha: The Golliwogg's "Auto-go-cart", 1901.
Walt Disney's magnificent Mr. Toad : from the Walt Disney motion picture "Ichabod and Mr. Toad" ; based on "The wind in the willows" by Kenneth Grahame, 1949.
Williams, Archibald: Petrol Peter, 1906.


Erzählende Literatur
Fuhlberg- Horst, John Auto und Motor bei Onkel Herbert : was ich in
einer schönen Ferienzeit erlebte, 1924.
Grahame, Kenneth: Christoph, Großmaul und Cornelius.
Grahame, Kenneth: Der Wind in den Weiden.
Kästner, Erich: Pünktchen und Anton.
Krause, Hans: Der Straßenschreck von Mannheim, 1970.
Ott, Estrid: 3 Mädel in einem Auto, 1929.
Rudolf, Georg: Daimler und Benz erfinden Motorrad und Auto, 1955.
Schade-Hädicke, Josephine: Die Wette um eine Million. Im Auto quer durch
Amerika, 1912.
Weber, Gottwald: Das erste Auto in Schilda, 1930.


Sachbücher
Buck, Werner: Fahr mit im Auto. Das neue Buch vom Auto, 1955.
Dolmatovskij, Evgenij: Erzählung vom Auto, 1954.
Gräff, Werner: Das Buch vom Auto, 1931.
Kettel, Paul: Märten baut Automobile. Ein Buch vom Werden
und Wesen neuzeitlichen Automobilbaues, 1937.
Neher, Franz Ludwig: Achtung Kurve! Von Autos, ihrer Geschichte, ihrem
Bau und von den schnellsten Rennen, 1956.
Neher, Franz Ludwig: Fliessband - alle 3 Minuten ein Auto, 1953.
Reichardt, Hans: Das Auto. Was ist was - Band 53, 1974.
Sponsel, Heinz: Porsche - Autos – Weltrekorde, 1953.
Stolze, Rüdiger: Das will ich vom Auto wissen, 1977.
Wille, Hermann Heinz: PS auf allen Straßen der Welt, 1964. 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen